Freitag, 5. September 2025
Sulgen. Da alle Vorstandsmitglieder inklusive des Präsidenten ihren Rücktritt angekündigt haben, droht der Verkehrsgruppe Sulgen-Bischofszell-Gossau das Aus. Der vor 78 Jahren gegründete Verein befasst sich mit Fragen des öffentlichen Verkehrs.
Vielleicht war der Zeitpunkt für die Ankündigung nicht sonderlich gut gewählt. Doch gibt es für eine solche Information einen geeigneten Moment? Im Glasi-Restaurant Adler in Hergiswil hatten sich drei Dutzend Reiselustige gerade das Mittagessen munden lassen und sich auf das Dessert gefreut, als sie plötzlich die kräftige Stimme Alfred Müllers zu hören bekamen. Der 80-jährige Sitterdorfer ergriff an diesem 6. August in seiner Funktion als Präsident der Verkehrsgruppe Sulgen-Bischofszell-Gossau das Wort:
«1998 durften wir die Vereinsführung übernehmen und damit auch die jährlichen Reisen organisieren, wobei die heutige Reise die letzte ist.» Nicht wenige mussten da am Gestade des Vierwaldstättersees zunächst einmal leer schlucken. Für viele waren die ganztägigen Ausflüge mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu einer geschätzten Gewohnheit geworden. Und jetzt soll alles vorbei sein?
Vieles spricht dafür
«Leider geht es uns wie vielen anderen Vereinen. Wir finden keine Leute, die bereit wären, im Vorstand Verantwortung zu übernehmen und den Verein weiterzuführen», erklärt Müller. Der frühere, langjährige Bus-Chauffeur der Autokurse Oberthurgau (AOT, heute: Bus Oberthurgau) amtiert seit 27 Jahren als Präsident der Verkehrsgruppe, deren Geschicke er mit einem Vorstand in wechselnder Zusammensetzung lenkt. Von Beginn an dabei sind Müllers Ehefrau Annalis und Hans Bernhard aus Bischofszell.
Jahr für Jahr organisierte das Trio eine Reise. Davon Abstand nehmen musste man nur während der Coronapandemie, der zwei Ausflüge zum Opfer fielen. Er sei jetzt in einem Alter, in dem er kürzertreten und die Leitung der Verkehrsgruppe einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin übergeben wolle, begründet Müller seinen Rücktrittsentschluss. Er verweist auf den grossen zeitlichen Aufwand, der mit der Organisation der Reisen verbunden sei: «Ein halbes Jahr waren wir jeweils mit der Vorbereitung beschäftigt, wozu auch das Rekognoszieren der Routen, Bahnhöfe und Destinationen gehörte.»
Die Verkehrsgruppe Sulgen-Bischofszell-Gossau wurde am 30. August 1947 vom Bischofszeller Verleger Adolf Salzmann ins Leben gerufen. Seit ihrer Gründung setzt sie sich mit Fragen des öffentlichen Verkehrs auseinander. Die Verbindungen auf der Bahnlinie Gossau–Sulgen waren nach dem Zweiten Weltkrieg noch bescheidener Natur und beschränkten sich auf einige wenige Fahrten täglich. Die unbefriedigende Situation provozierte in der Bevölkerung den Ruf nach Optimierungen, zumal selbst eine Aufhebung der 1876 eingeweihten Bahnlinie nicht ausgeschlossen werden konnte.
Als Sprachrohr und Interessenvertretung der Bevölkerung trat die Verkehrs-gruppe auf den Plan. Sie versuchte, an Fahrplankonferenzen eine Verbesserung der Bahn- und Busverbindungen zu erwirken. Als neues Tätigkeitsfeld kam 1981 die Organisation von Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinzu. Wurden die Ausflüge zu Beginn noch explizit als «eisenbahntechnische Besichtigungsfahrt» deklariert, so stehen heute attraktive Reiseziele unterschiedlichster Art auf dem Programm: vor zwei Jahren zum Beispiel das Stanserhorn und heuer Hergiswil mit der Besichtigung der dortigen Glashütte. Gleich geblieben ist immer die primäre Zielsetzung: Den Teilnehmenden soll die bequeme Art des Reisens mit Bahn, Bus oder Schiff nähergebracht werden. Durchschnittlich haben sich pro Jahr 75 Personen angemeldet. Der Rekord datiert aus dem Jahr 1988, als 276 Personen das Emmental besuchten. Bis vor Kurzem konnte noch zwischen zwei Reisetagen (Mittwoch oder Samstag) gewählt werden.
Schöne Erinnerungen
Wer so viele Reisen organisiert und mitgemacht hat wie das Ehepaar Müller und Hans Bernhard, kann auch viel erzählen. Annalis Müller ist vor allem die Postautofahrt im Jahr 2016 über den Nufenenpass mit anschliessender Einkehr in Ulrichen VS in Erinnerung geblieben: «Der Wirt erschrak richtig, als auf einmal 70 Leute erschienen und er befürchtete, für andere Gäste keinen Platz mehr zu haben.» In der langen Reihe von Reisen sticht jene im Jahr 2014 hervor, als das Bahnmuseum Albula in Bergün/Bravuogn besichtigt wurde. «Während der Mittagspause mussten wir wegen eines Unwetters, das einen Bergsturz zur Folge hatte, umdisponieren und kurzfristig die Route ändern. Aber es nahm alles ein gutes Ende», erzählt Hans Bernhard. Und auch der Vereinspräsident kann die Retrospektive mit einem speziellen Erlebnis bereichern: «Wir waren unterwegs zum Ausflugsberg Muottas Muragl im Engadin und gerieten in ein Schneegestöber – und das im August!» Von Unfällen blieb die Verkehrsgruppe in all den Jahren verschont. Eine Notfallapotheke hatte man vorsichtshalber aber stets dabei.
Zurück in die Gegenwart
Wie geht es mit der Verkehrsgruppe weiter? «Die Auflösung ist nicht in Stein gemeisselt, der Verein besteht vorerst weiter», erklärt Alfred Müller. Sicher sei aber, dass im nächsten Jahr keine Reise durchgeführt wird. Es sei denn, es fänden sich rechtzeitig Personen, die gewillt sind, diese Aufgabe zu übernehmen. Allzu gross ist die Hoffnung nicht, wie Müller einräumt. Man habe auf der Plattform Benevol-Jobs inseriert, aber ohne Erfolg. Auch mehrere infrage kommende Personen seien kontaktiert worden – ebenfalls erfolglos. Welche Voraussetzungen müsste denn jemand für die Führung des Vereins mitbringen? «Ausser der Bereitschaft, Zeit zu investieren, wäre Erfahrung mit Belangen des öffentlichen Verkehrs wünschenswert», sagt Müller.
Georg Stelzner