Freitag, 12. März 2020
Sulgen. 15 Jahre lang war Anita Tschannen in der Offenen Jugendarbeit (OJA) Common tätig. Diese Woche geht sie in Pension.
Frau Tschannen, was hat sie an der Jugendsozialarbeit gereizt?
Anita Tschannen: Die Arbeit hat zwei Seiten. Zum einen die Administration, das Vorbereiten von Projekten, Sitzungen mit dem Vorstand, der Gemeinde, der Schulsozialarbeit etc., zum andern ist man im Treff mit den Jugendlichen am Puls der Zeit. Für mich ist diese Kombination ideal. Bei der Arbeit mit den Jugendlichen weiss ich nie, was mich erwartet, wer in den Treff kommt, wie der Tag verläuft, das macht es interessant. Durch diese Vielfalt bin ich immer gefordert und wir können auch viel lachen, in Coronazeiten sogar durch die Maske.
Welche persönlichen Eigenschaften helfen in diesem Beruf?
Tschannen: Man muss gerne in Beziehung treten, das steht in unserem Beruf an oberster Stelle. Dann sollte man authentisch, flexibel, spontan und kreativ sein, denn man trifft immer wieder auf neue Personen und Situationen. Eine Riesenportion Humor und dass man den Fünfer auch mal gerade sein lassen kann, ist ebenfalls hilfreich.
Wie hat sich die Jugendarbeit in den letzten Jahren verändert?
Tschannen: Der Wandel der Zeit ist besonders mit dem Aufkommen der neuen Medien spürbar. Als ich angefangen habe, hatte noch kaum ein Jugendlicher ein Handy. Um den einzigen Computer im Treff zu nutzen, mussten sich die Jugendlichen anmelden und eintragen. Sie blieben länger im Treff und beschäftigten sich vielseitiger. Heute steht das Gamen am Handy im Vordergrund. Sie da rauszuholen und mit ihnen gemeinsam ein Spiel wie zum Beispiel Stadt, Land, Fluss zu spielen, ist eine Herausforderung. Früher setzten sich die Jugendlichen auch verlässlicher für den Treff ein. Betriebsgruppen, die Aktivitäten organisierten und mir bei der Jahresplanung halfen, hielten sich über Jahre. Unser Publikum ist auch jünger geworden. Früher war es kein Problem, die über 16-Jährigen zu erreichen. Das hat sich geändert, da müssen wir dranbleiben. Was ich sehr gut finde, ist, dass die Vernetzung innerhalb der Gemeinde in den letzten Jahren intensiviert wurde.
Wie blicken Sie auf die Arbeit mit Ihren Kolleginnen und Kollegen sowie dem Vorstand zurück?
Tschannen: Das Vertrauen des Vorstands war immer sehr gross. Was ich machen wollte, konnte ich verwirklichen. Dass unsere Arbeit mit Sitzungen, Anträgen, Auswertungen und Jahresbericht gegenüber der Trägerschaft transparent sein muss, ist selbstverständlich. In den ersten Jahren arbeitete ich lange mit Mustafa Saliu zusammen, der als Kulturvermittler zum Team stiess. Wir haben viel anstrengende Aufbauarbeit geleistet – mit einem deutlichen Erfolg. Akzeptanz und Toleranz sind Werte, die wir in der OJA Common grossschreiben. Diese Werte leben wir nicht nur mit den Jugendlichen, sondern auch in unserem Team. Die Freude, hier mitzuarbeiten, habe ich nie, gar nie verloren. Das ist ein sehr schönes Gefühl. Am liebsten arbeitete ich immer, wenn der Treff rappelvoll war.
Gibt es einen bestimmten Höhepunkt, auf den Sie gerne zurückblicken?
Tschannen: Wir hatten so viele gute Projekte mit den Jugendlichen. Spontan fällt mir ein Tanzprojekt ein, das mehrere Jugendarbeitsorganisationen gemeinsam durchführten. Die Tanzgruppe, die unsere Jugendlichen bildeten, musste sich selber für einen Flashmob-Tanz organisieren. Für das Projekt war ich zusammen mit Barbara Holzer verantwortlich. Wir hielten uns als Coaches aber im Hintergrund. Bei der Tanzgruppe gab es einige Schwierigkeiten. Obwohl sich die Jugendlichen gut verstanden haben, gestaltete sich die Kommunikation manchmal schwierig. Dann kam der Tag mit dem grossen Event in Zürich – und alles lief rund. Wir hatten einen so schönen Tag, genossen die Zugfahrt, das gemeinsame Essen und streckten zusammen die Füsse in den Zürichsee. Bei der Arbeit mit den Jugendlichen habe ich auch immer viel zurückerhalten.
Gab es auch Ereignisse, die nicht so gut liefen?
Tschannen: Jedes Projekt, das wir mit den Jugendlichen angehen, kann am Ende erfolgreich sein oder eben auch nicht. Aber der Prozess bis dahin ist immer wertvoll. Niederlagen muss man aushalten können. Ich nehme das recht locker.
Mit der Coronapandemie ist nichts mehr so wie vorher. Wie haben Sie die letzten Monate in der OJA Common erlebt und wie sehen Sie die Zukunft?
Tschannen: Der Lockdown im letzten Frühling hatte eine zweimonatige Schliessung des Jugendtreffs zufolge. Uns war da gar noch nicht bewusst, was das heisst. Dann durften wir den Treff mit Maskentragen und beschränkter Besucherzahl wieder öffnen. Hart ist es, wenn wir Jugendliche abweisen müssen, weil schon zu viele im Treff sind. Einige kommen dann gar nicht mehr. Ein wichtiger Teil der Arbeit wird künftig sein, diese Jugendlichen wieder zu erreichen. Mit der Maske ist für mich die Beziehungsarbeit schwieriger geworden. Für mich war es immer wichtig, die Mimik der Treffbesucher zu sehen und ihnen zur Begrüssung die Hand zu schütteln.
Der Gemeinderat bedauert, dass keine grosse Verabschiedung stattfinden kann. Wie sehr schmerzt Sie das?
Tschannen: Sehr. Mein Wunsch wäre gewesen, zusammen mit den Jugendlichen eine grosse Abschiedsparty zu organisieren, um nochmals so richtig auf den Putz zu hauen. Leider geht das jetzt nicht. Ich muss mich fast ein bisschen davonschleichen, das tut weh. Aber das müssen im Moment wohl viele so machen. Am Bildschirm oder per E-Mail tschüss zu sagen, finde ich schon recht unpersönlich. Aber da jammere ich jetzt schon auch auf hohem Niveau.
Welche Zukunftspläne haben Sie?
Tschannen: Vor einem halben Jahr stresste mich die Aussicht auf so viele freie Zeit. Jetzt, wo alles aufgeräumt ist und ich bereit bin, weiss ich, dass ich es gelassen angehen kann. Mein Hobby Fotografieren werde ich wieder intensivieren und weiterhin Yoga betreiben. Dann möchte ich wieder ins Englischlernen einsteigen. Da dies nur noch online möglich war, habe ich es vernachlässigt. Töpfern lernen steht ebenso auf dem Programm. Und sobald es wieder möglich ist, möchten wir wieder reisen.
Interview: Hannelore Bruderer
Zur Person
Anita Tschannen war auch während ihrer Familienzeit immer berufstätig. Nach einer Erstausbildung im Bereich Fotolabor und -verkauf folgte eine Ausbildung in Soziokultureller Animation. Dieses Berufsbild war im Thurgau nicht gefragt, wie die vierfache Mutter nach dem Umzug der Familie von Jona nach Amlikon feststellen musste. So entschloss sie sich zu einer Weiterbildung zur Sozialarbeiterin an der Fachhochschule St. Gallen. Ihr Pensionsalter hat Anita Tschannen bereits am 9. Januar erreicht. Sie führte ihr 50-Prozent-Pensum als Jugendarbeiterin der OJA Common bis zur Einarbeitung ihres Nachfolgers fort. (hab)