Freitag, 11. Juli 2025
Bischofszell. Sarah Kemle aus München war als Schriftsetzerin und Druckerin auf der Walz im Typorama in Bischofszell.
Auf der historischen Druckpresse ruhen sechs leuchtend rote Zeichen auf einem gelben Untergrund. «Das sind Buchstaben aus der Baybayin-Schrift, aus denen ich hier Karten herstelle», erklärt Sarah Kemle. «Baybayin ist eine philippinische Silbenschrift, die vor der spanischen Kolonialisierung verwendet wurde – also vor dem Jahr 1565, als die spanische Herrschaft begann und bis 1898 dauerte.» Heute hätten die Filipinos keine eigene Schrift mehr. «Sie schreiben in lateinischen Buchstaben.» Die Nationalsprache sei Tagalog, während Englisch als zweite Muttersprache weit verbreitet sei. Die Baybayin-Schrift sei im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen. Sarah Kemle möchte dazu beitragen, dieses kulturelle Erbe wiederzubeleben. Kürzlich war sie im Typorama in Bischofszell – einem typografischen Museum und zugleich Produktionsbetrieb – auf der Walz als Schriftsetzerin und Druckerin. Dort arbeitete sie an ihrem Projekt «Amnesie», das sich konkret mit der Baybayin-Schrift beschäftigt.
Verein für Schwarze Kunst
Sarah Kemle, gebürtige Filipina, lebt in München und ist dort als Informatikerin sowie in Teilzeit als Dozentin an der Akademie für Gestaltung und Design der Handwerkskammer München und Oberbayern tätig. Sie ist Mitglied im Verein für die Schwarze Kunst, dessen Ziel es ist, das handwerkliche Können sowie die traditionellen Berufe des Schriftgiessers, Schriftsetzers und Buchdruckers zu bewahren und zu fördern. Dabei steht auch die Weitergabe dieses Wissens an die nächste Generation im Fokus.
Ihre zweimonatige Walz führte sie zu vier verschiedenen Stationen. Die letzte Station war das Typorama, wo sie zwei Wochen verbrachte. Für diese Auszeit hat sie sich als Informatikerin ein Sabbatical genommen – eine berufliche Pause, um auf die Walz zu gehen. Die Walz hat ihren Ursprung im Mittelalter und war vor allem bei Handwerksgesellen wie Zimmerleuten, Schlossern oder Buchdruckern verbreitet. Noch heute nutzen manche diese Tradition als Chance zur Weiterbildung, zum Austausch und für neue kulturelle Erfahrungen.
Sarah Kemle erzählt, dass sie ihre Walz in München begonnen habe und mit ihrem Auto nach Dachau gefahren sei, wo sie in einer Druckerei den sogenannten Hochdruck erlernte. Anschliessend führte sie ihr Weg ins niederländische Hilversum, wo sie ebenfalls im Hochdruck tätig war. An ihrer dritten Station in Dresden eignete sie sich Kenntnisse im Tiefdruck an. Beim Hochdruck sind die druckenden Stellen erhöht, beim Tiefdruck liegen sie vertieft. Durch einen Walzkollegen wurde sie auf das Typorama aufmerksam. «Ich wollte eine Linotype-Setzmaschine kennenlernen, die als technologischer Meilenstein der Satzherstellung im Hochdruck gilt.» Das Typorama gehöre zu den wenigen Betrieben in Europa, die noch auf einer solchen Maschine produzieren, merkt sie an. «Ich bin von diesem Betrieb tief beeindruckt. Hier arbeiten Druckmeister und Schriftsetzer im Frondienst. Ihnen gebührt mein grösster Respekt. Rund 50 Maschinen aus verschiedenen Epochen machen das Typorama zu einem echten Paradies für Schriftsetzer. Zudem gibt es hier Setzmaterialien, die ich zuvor noch nie gesehen habe.»
Menschen auf der Walz erkennt man an ihrer traditionellen Kluft – sie verrät durch Farbe und Schnitt, welchem Handwerk sie angehören. «Früher gab es auch eine eigene Kluft für Schriftsetzerinnen und Schriftsetzer, heute aber nicht mehr», erklärt Sarah Kemle, die von Kopf bis Fuss schwarz angezogen ist – nicht, weil die Farbe vor Druckfarben schützt, sondern weil Flecken darauf weniger auffallen. «Deshalb trage ich Schwarz», sagt sie und lacht.
Wahre Meister
Die moderne digitale Welt sei ihr vertraut, doch nun lerne sie die traditionelle Schriftsetzung kennen. Moderne Technik und handwerkliche Tradition lassen sich für sie gut miteinander verbinden. Sarah Kemle erzählt, dass sie in München ein eigenes Atelier eröffnen möchte. Sie besitze bereits zwei alte Druckmaschinen aus den Jahren 1920 und 1967, die sie zuvor nicht bedienen konnte. «Als Dozentin kann ich das Erlernte nun auch an Studierende weitergeben», sagt sie. Präzision ist beim Arbeiten an einer historischen Maschine unerlässlich. «Da kann man nicht schummeln», erzählt sie und schmunzelt. Im Gegensatz dazu sei die Arbeit im digitalen Bereich weniger strikt, dort seien kleine Abweichungen auch mal akzeptabel oder schnell zu korrigieren. «Ich komme aus der digitalen Welt und bewundere, wie die Menschen im Typorama wahre Meister ihres Handwerks sind. Ohne Handwerker gäbe es übrigens keine Industrie.»
Eigentlich sei Informatikerin nicht ihr Traumberuf. Lieber wäre sie Innenarchitektin geworden. «Auf den Philippinen hat man oft keine Wahl», erklärt sie. «Man erlernt einen Beruf, der gefragt ist und in dem Fachkräfte fehlen.» Doch als Informatikerin könne sie nun auch an historischen Maschinen ihre Kreativität ausleben. Sarah Kemle hat sich im Bereich Design an der Akademie für Gestaltung und Design der Handwerkskammer München und Oberbayern weitergebildet. Für ihre Abschlussarbeit mit dem Titel «Baybayin Renaissance» – ausgezeichnet als eine der besten Arbeiten des Jahres 2023 – erhielt sie den Meisterpreis. Informationen über die vergessene Schrift zu finden, sei alles andere als einfach gewesen. Das Buch «Doctrina Christiana en Lengua Española y Tagala», das erste auf den Philippinen 1593 in Xylografie (Holzschnittdruck) gedruckte Buch, bildete die wesentliche Grundlage ihrer Recherchen.
Auf der Walz
Sie blicke gerne auf ihre Walz zurück, jede der vier Stationen sei einzigartig gewesen. Überall habe sie in kurzer Zeit viel gelernt. Besonders eindrücklich war für sie die erste Arbeit an einer historischen Maschine in Dachau. «Ich konnte drucken und hielt danach das fertige Produkt in den Händen – an einer Maschine, die ich zuvor nur im Museum gesehen hatte», sagt sie. Dieser Moment bleibe unvergesslich – ebenso die Zeit in Bischofszell, an die sie mit grosser Dankbarkeit zurückdenke. «Im Typorama wurde ich sehr herzlich aufgenommen und fühlte mich vom ersten Tag an willkommen. In meiner Freizeit spazierte ich gerne gemütlich durch das Städtchen. Als Rosenliebhaberin habe ich vor allem die wunderschönen Rosengärten genossen.»
Traditionelle Druckkunst
Im Typorama wurde Sarah Kemle von zwei Ausbildnern betreut: Geschäftsführer Percy Penzel, Schriftsetzer und Drucker, sowie Hans Mühlethaler, ebenfalls Drucker. Percy Penzel sagt, dass Sarah bereits die sechste Person gewesen sei, die während ihrer Walz-Zeit bei ihnen gearbeitet habe. «Es ist uns ein grosses Anliegen, unser Wissen über die traditionelle Druckkunst an junge Menschen weiterzugeben. Wir möchten sie motivieren und dazu anregen, sich weiterzubilden.» Zwar handle es sich dabei nicht um eine vollständige Ausbildung, doch sei es wichtig, die alte Druckkunst zu bewahren und vor dem Vergessen zu schützen.
Yvonne Aldrovandi-Schläpfer