Freitag, 20. Dezember 2024
Kradolf / Las Vegas. Hans Nessensohn kam Donald Trump zuvor. Denn als der Politiker am 5. November zum 47. US-Präsident gewählt wurde, hatte der 70-jährige Judoka aus Kradolf bereits seit 24 Stunden in Las Vegas einen seiner grössten Erfolge gefeiert: WM-Silber in der Alterskategorie M9/bis 60 Kilo.
Suchte man nach einer lebenden Personifizierung eines «Stehaufmännchens» – der für den Judo- und Jiu-Jitsu-Club Weinfelden startende Hans Nessensohn wäre eine passende »Modellvorlage» dafür. Denn der nimmermüde Kämpfer aus dem Mittelthurgau ist für seine Nehmerqualitäten bekannt. Im Dezember 2021 sprang er beispielsweise dem Tod von der Schippe, nachdem er sich die aggressive Delta-Variante des Corona-Virus eingefangen hatte. «Ich war wochenlang mehr tot als lebendig», erinnert er sich heute noch mit Schrecken.
Und der Biber gibt den Kick
Dabei ist Hans Nessensohn in der Regel fit wie ein Turnschuh. Dort, wo der eine oder andere Altersgenosse von ihm schon einmal ein kleines Ränzchen vor sich herschiebt, ist beim Kradolfer kein Gramm Fett auszumachen. Sollte man eigentlich nicht meinen, denn seine «Wettkampfdiät», der er auch in Las Vegas treu blieb, klingt nicht gerade nach typischer Sportlernahrung: Appenzeller Biber und Cola. «Die Cola schüttle ich so lange, bis die ganze Kohlensäure draussen ist, denn Kohlensäure würde während des Wettkampfes meinen Körper nur belasten. Die übrige Kombination aus Zucker und Koffein gibt mir dann im Wettkampf den richtigen Kick», erzählt Hans Nessensohn beim Interview im Weinfelder Dojo.
Dass er diesen «Kick» vor wenigen Wochen auch in Nordamerika erfolgreich ausleben konnte, glich einem Wunder. Denn am 27. Februar dieses Jahres zog er sich im Training einen Sprung- und Wadenbeinbruch zu. «Ich bin dann von der Matte gelaufen, im Auto nach Hause gefahren und am nächsten Tag zum Arzt gegangen», erzählt er gelassen. Eine Woche später wurde er in Münsterlingen operiert – und war zweieinhalb Tage später wieder zu Hause. «Ich habe meine Therapeuten verblüfft, wie schnell ich mit den Stöcken laufen konnte.» Dafür, wofür andere Tage brauchten, benötigte er Stunden. «Ich bin halt der Wettkampftyp», lacht er. Zur Eile trieb ihn das eigene Wiegenfest an. «Fünf Tage nach der Operation hatte ich zum 70. Geburtstag eingeladen. Ein Geburtstagsfest ohne das Geburtstagskind, das geht doch nicht.»
Letzte Sekunden entschieden
Wie schon so oft, war aber nach dem Geburtstag für Nessensohn vor dem ersten Training. Nach Belastungstests stieg er im Juni ins Training ein, das er nach den Sommerferien intensivierte. «Meinem Sohn Beat habe ich es zu verdanken, dass ich es noch nach Nordamerika schaffte, denn er hat mit mir ein super Training gemacht und mich gut auf die Gegner eingestellt.» Was der Routinier damit meint, ist, dass er an der WM erstmals eigentlich «contre cœur» gekämpft hat. «Ich versuche, immer selbst die Initiative zu ergreifen. In Las Vegas verhielt ich mich jedoch sehr passiv – und riskierte damit auch einige Strafen, die ich dann auch bekam. Aber diese Zurückhaltung im Kampf erlaubte es mir, die Kämpfe konditionell durchzustehen.» Und zu gewinnen. Denn sowohl sein Viertelfinal gegen den Spanier Ramos Vincente wie auch den Halbfinal gegen den US-Amerikaner Noriaki Bunasawa gewann der bereits verwarnte Hans «in den letzten Sekunden» durch Ippon. Hätte er nicht erfolgreich zum Schulterwurf angesetzt, dann hätte der Kradolfer gleich nach dem ersten Kampf wieder seine sieben Sachen zusammenpacken können. Es kam jedoch anders – und Hans Nessensohn musste erst gegen Sandy North aus den USA die Segel streichen. «Auf diese Medaille bin ich sehr stolz. Ich habe auf keinen Fall Gold verloren, sondern Silber gewonnen», erklärt Hans Nessensohn.
Was ihm von seinem Ausflug nach Las Vegas sonst noch in Erinnerung bleibt, sind die riesigen Dimensionen. «Unser Hotel hatte 2500 Zimmer, womit alle 1134 Athletinnen und Athleten, die am Turnier teilnahmen, darin Platz hatten.» Doch das war noch nicht alles, denn im Hotel fanden auch alle Trainings- und Wettkämpfe statt. «Die haben im Hotel einfach fünf Kampfflächen hingestellt – jede davon so gross wie dieser Dojo hier. So etwas wäre bei uns in der Schweiz undenkbar», staunt der nimmermüde Kämpfer heute noch.
Christof Lampart