Freitag, 3. September 2021

Kradolf. Abreise, Ankunft, Sehnsucht oder der intensive Genuss eines flüchtigen Augenblicks – die Stimmungen, die die Bilder zum Thema Verkehr des Kunstmalers Willi Oertig beim Betrachter auslösen, sind vielfältig. 

Nicht was man sieht, sondern was man beim Betrachten empfindet, macht die Schönheit von Willi Oertigs Bildern aus. Ein wiederkehrendes Sujet in seiner Kunst ist der öffentliche Raum und das Thema Verkehr – Züge, Schiffe, Trams, Stras­sen, Bahnhöfe, Tankstellen, Telefonkabinen. Menschen sind fast nie abgebildet. «Es geht um die Stimmungen, die ein Bild beim Betrachten erzeugt, Menschen muss ich dafür keine malen», meint der Kradolfer Künstler. Viele der Tankstellen, Telefonkabinen oder Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs, die er gemalt hat, existieren nicht mehr. Über ihn sei einmal geschrieben worden, er male eine vergessene Zeit, sagt Oertig. «Das mache ich aber nicht bewusst.» Viel mehr liegt es wohl daran, dass Oertig, der 1947 in der Stadt Zürich geboren und aufgewachsen ist und seit einigen Jahren in Kradolf wohnt, diese Art von Bildern schon seit den 1970er-Jahren malt. «Ich bin der einzige Schweizer Kunstmaler, der über mehrere Jahrzehnte Züge und Schiffe auf der Leinwand festhält», sagt er. Er schätzt die Anzahl seiner Bilder zum Thema Verkehr auf rund 300. Warum ihn Verkehrsmittel oder auch bestimmte Bauten faszinieren, kann er nicht erklären. «Es gibt Sachen, die hinterlassen bei mir einen bestimmten Eindruck. Das ist einfach so.» Man könne ja auch nicht wirklich erklären, warum man den Geschmack eines Essens möge und den eines anderen nicht. 

Eigene Interpretation

Willi Oertig malt seine Bilder nicht vor Ort im Freien. «Das lenkt zu fest ab», sagt er und sei für seine Art der Malerei auch nicht zielführend. Springt ihm etwas ins Auge, dann fotografiert er es mit einer seiner drei Analogkameras. Die Negative des Films landen alle in seiner umfangreichen Sammlung. Beginnt er mit dem Malen eines Bildes, dann greift er auf mehrere Fotografien des gleichen Motivs zurück. «Ich fertige ja keine Kopien eines Fotos an, sondern fange etwas Bestimmtes ein. Dabei verlasse ich mich auf meine Intuition», und er deutet auf seine Brust, «auf das, was da ganz tief im Innern steckt.» 

Er folgt seiner Eingebung

Mit seiner Intuition liegt der Künstler richtig, denn seine Werke, denen mitunter eine melancholische Verlassenheit innewohnt, sprechen viele unterschiedliche Menschen an. Oertigs Werke hängen in Privathäusern wie auch an öffentlichen Orten. Dass seine Werke Abnehmer finden, überlässt der Maler nicht dem Zufall. Findet gerade keine Ausstellung statt, so scheut er sich nicht, Personen direkt anzusprechen, wenn er findet, seine Bilder würden zu diesen Menschen oder an einen bestimmten Ort passen. «Auch hier liege ich mit meiner Intuition meist richtig», sagt Oertig. Wie viele seiner Generation ist Willi Oertig in einfachen Verhältnissen aufgewachsen und hat früh gelernt, dass man sich einsetzen muss, um etwas zu erreichen. Diese Einstellung schlägt sich auch in Willi Oertigs Arbeitsmoral nieder. Seit Jahren malt er mit der gleichen Begeisterung, hört bei der Arbeit Musik und überträgt seine Emotionen auf die Leinwand. Neue Motive für seine Kunst findet er auf Reisen und in seiner näheren Umgebung, rund 260 seiner Bilder zeigen den Thurgau. 

Hannelore Bruderer