Freitag, 3. Februar 2023

AachThurLand. Hans van der Graaff zieht mit einer Schafherde durch den Oberthurgau. Diese Woche macht er im AachThurLand Station. 

Auf dem schneefreien, grünen Wiesland ist die Herde schon von Weitem gut zu erkennen. Daran ändern auch die vereinzelten Tiere mit dunklem Wollkleid nichts. Rund 500 Schafe unterschiedlicher Rassen grasen am Dienstagnachmittag entlang der Weinfeldenstrasse in Sulgen; am Vormittag taten sie das noch entlang der Auwiesenstrasse unweit des Auholzwaldes. Welch ein Anblick! Er lässt den Betrachter unweigerlich innehalten. Das Schaf ist der Inbegriff einer friedfertigen, liebenswerten Kreatur. Vor lammfrommen Menschen muss sich niemand fürchten und im Christentum ist Agnus Dei gar ein Symbol für den Sohn Gottes. Ein Tier wie die vorwitzige und angriffslustige Ziege hat in einem solchen Wettstreit keine Chance. 

Stets wachsam

Die Geräuschkulisse, aufgebaut von motorisierten Verkehrsteilnehmern, mag freilich nicht so recht zu dieser Idylle passen. Sie katapultiert einen aus vergangenen Zeiten, in denen man im Geiste reflexartig Zuflucht gesucht hat, zurück in die Gegenwart. In dieser hat ein Hirte, unterstützt von den Eselinnen Bina und Selma sowie den Hunden Rob und Zeus, von der Morgen- bis zur Abenddämmerung ein wachsames Auge. Die Herde kann sich unter dieser ­Obhut sicher fühlen. Der Mann mit langem Mantel, schwarzem Hut und dünnem Stock heisst Hans van der Graaff, ist in den Niederlanden geboren und auf­gewachsen und lebt seit 1979 in der Schweiz, wo er nach einem Intermezzo als Landwirt inzwischen seit einem Vierteljahrhundert als Wanderhirte seinen Lebensunterhalt verdient. Das Land ist ihm seit Langem vertraut. «Ich war in den Schulferien oft hier, um in den Bergen zu klettern», erzählt er. Hans van der Graaff ist mit Leib und Seele Schafhirte. Den Beruf zu wechseln, war für ihn nie ein Thema. Die momentane Wanderung hat er Anfang Dezember bei Schweizersholz begonnen. Sie wird ihn in den nächsten Wochen noch weiter ostwärts bis nach Amriswil führen. Hans van der Graaff liebt die Gesellschaft der Schafe und seine Aufgabe, deren Wohlergehen zu sichern. «Tiere verhalten sich sozialer als Menschen», sagt er im Brustton der Überzeugung. Doch hat er keine Angst um seine Schützlinge, die zwar nicht ihm gehören, sondern verschiedenen Besitzern? Dazu bestehe kein Anlass, werde die Herde in den Nachtstunden doch durch einen elektrischen Zaun geschützt. Aber wenn sich ein Wolf blicken liesse? «Der würde beim Anblick der viel grösseren Esel schnell das Weite suchen», erklärt Hans van der Graaff. Die weitaus grössere Gefahr stellten bellende Hunde, die den Zaun niederreissen, oder dreiste Diebe dar. Tiefe Temperaturen könnten den Schafen ohnehin nichts anhaben. Notfalls stünden sie eng zusammen und wärmten sich so gegenseitig. Hans van der Graaff verbringt die Nacht auf dem Anwesen seines Auftraggebers in Heimenhofen.

Mäuse für die Greifvögel

Über der Herde zieht ein Roter Milan seine Kreise. Die Mäuse im Erdreich werden durch die vielen Tiere auf der Weide aufgescheucht und stellen für den Greifvogel eine willkommene Beute dar. Die Schafe geniessen das frühlingshafte Wetter, das ihnen dank der fehlenden Schnee- und Eisdecke eine mühelose Nahrungsaufnahme ermöglicht. Sie stehen beim Fressen, erst wenn sie satt sind, legen sie sich nieder. Ob sie dann ihre Artgenossinnen beobachten? Nicht alle Tiere werden den kommenden Sommer auf einer Alp verbringen so wie die Muttertiere mit ihren Lämmern. Manches Leben wird im Schlachthof enden. Da die Wolle nicht einmal mehr den sprichwörtlichen Pappenstiel wert ist, rentiert nur noch der Fleischverkauf. Daran verschwendet Hans van der Graaff aber gerade keinen Gedanken. Viel mehr beschäftigt ihn die Aufgabe, zu einem Tier aus der Herde eine Beziehung aufzubauen und es zu einem Leitschaf zu formen. Die Bemühungen zeigen bereits einen ersten Erfolg. «Antonia!», ruft Hans van der Graaff und siehe da: Das aufgerufene Schaf blickt zum Hirten und macht einige Schritte auf ihn zu.

Georg Stelzner