Region. Das Bildungszentrum für Gesundheit und Soziales in Weinfelden lanciert einen neuen Weiterbildungslehrgang. Thematisiert wird dabei die palliative Pflege von Menschen mit einer Beeinträchtigung, die ebenfalls ein Recht auf professionelle palliative Versorgung und ein würdiges Sterben haben, so wie es bei alternden und akut erkrankten Menschen ohne Behinderung der Fall ist.
Auch Menschen mit einer Beeinträchtigung haben das Anrecht, in Ruhe und, wenn möglich, symptomkontrolliert zu sterben. Ein Beispiel, wie es zu einer palliativen Betreuung eines Menschen mit Beeinträchtigung kommen kann, erklärt Sarah Sieber vom mobilen Palliative-Care-Dienst Palliative Plus anhand einer fiktiven Situation mit Martin W.
Martin W. ist 59 Jahre alt und aufgrund seiner Trisomie 21 kognitiv eingeschränkt. Er lebt seit 19 Jahren in einem Thurgauer Wohnheim und fühlt sich dort wohl. Er geht regelmässig in die Werkstatt und stellt dort kleine Produkte her, die im Laden des Wohnheims verkauft werden. Seit sechs Monaten verändert sich Martin W. zusehends. Er zieht sich immer mehr zurück, nimmt weniger an den Veranstaltungen teil. Ausserdem musste er im letzten halben Jahr, infolge einer Lungenentzündung, dreimal ins Spital. Auch fällt dem Betreuungsteam auf, dass er sich beim Essen immer wieder verschluckt.
Nach erneutem dreitägigen Spitalaufenthalt wird Martin W. wieder zurück ins Wohnheim verlegt, danach liegt er nun die meiste Zeit im Bett. Die Medikamente kann er nur noch mit Mühe schlucken. Da er nebst seiner Trisomie 21 auch unter epileptischen Anfällen leidet, hat das Team Bedenken, dass es vermehrt zu Anfällen kommt, wenn er die Medikamente nicht mehr regelmässig einnehmen kann. Im Spital sagte man, dass Martin W. palliative Betreuung benötige und vielleicht bald sterben werde. Die Mitarbeitenden des Wohnheims machen sich viele Gedanken. Viele Mitbewohner fragen nach Martin W., denn sie können nicht verstehen, warum es ihm schlecht geht. Einige Mitarbeiterinnen kennen Martin W. schon viele Jahre. Für sie ist der Gedanke, dass er sterben könnte, schlimm.
Schwierig zu erkennen
Die meisten Institutionen, in denen Menschen mit Beeinträchtigung leben, sind sozialpädagogisch ausgerichtet und verfügen über wenig oder kein ausgebildetes Pflegepersonal. Der Fokus der Betreuung liegt auf der Förderung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, Integration ins Arbeitsleben und Förderung der Selbstbestimmung. Wird Palliative Plus kontaktiert, ist es unabdingbar, den Ist-Zustand des Patienten und dessen Vorerkrankungen zu eruieren. Hirnschädigungen nach schweren Unfällen, frühkindliche Erkrankungen oder Trisomie 21 sind dabei nur wenige Beispiele für Grunderkrankungen der betroffenen Menschen.
«Einen Menschen mit Beeinträchtigung in einer palliativen Situation zu begleiten, ist eine grosse Aufgabe, die man nicht alleine schafft. Es braucht medizinisch-pflegerisches Fachwissen sowie agogisches Personal. Aber auch Seelsorge und Sozialdienst, damit die Betroffenen in Würde und fachkompetent begleitet und betreut werden können, sind ein wichtiger Bestandteil», sagt Sarah Sieber.
Wichtige Fachvertiefung
Das Bildungszentrum für Gesundheit und Soziales startet am Sonntag, 17. März, den ersten Lehrgang «Palliative Care für Menschen mit Beeinträchtigung». Darin enthalten sind Themen, welche an fünf Kurstagen studiert werden. «Am ersten Tag geht es um die Grundprinzipien einer palliativen Behandlung, gefolgt von der Bedeutung der Symptome. Der dritte Tag beinhaltet die Ethik und Entscheidungsfähigkeit, daraufhin wird die Symptomkontrolle erörtert und am letzten Tag wird es um die Spiritual Care und den Support gehen», erklärt Katharina Linsi, sie ist verantwortlich für die Weiterbildungen der Palliative Care in Weinfelden.
Weiter erörtert Linsi, dass hinter der ganzen Aufgleisung der neuen Weiterbildung ein ganzes Netzwerk steht. «Nebst zahlreichen Fachpersonen haben wir auch Sarah Sieber vom mobilen Palliative-Care-Dienst Palliative Plus und Antje Hirt miteinbezogen. Sie amten als Referentinnen innerhalb unseres Weiterbildungskonzeptes.» Katharina Linsi zeigt sich beeindruckt von der Arbeit Antje Hirts. «Ich besuchte sie in der Stiftung Balm in Jona auf einer Wohngruppe für Menschen mit Beeinträchtigung und Demenz. Dort wurde sie beauftragt, ein Demenzkonzept zu erstellen. Doch die Demenz schien gar nicht das grosse Thema zu sein, sondern das Lebensende und das Sterben. So hat es Antje Hirt mit ihrem Konzept geschafft, dass auch die Menschen in der dortigen Institution, integriert in ihrer familiären Wohnsituation, sterben dürfen. Für meine Begriffe aktuell ein einmaliges Konzept», sagt Linsi.
Zudem entwickelt die Ostschweizer Fachhochschule OST mit «PAL_Link» ein neues Netzwerk betreffend Palliative und End-of-Life Care für Menschen mit kognitiver oder Mehrfachbeeinträchtigung – ein Versorgungskonzept für die Ostschweiz.
Christoph Heer