Freitag, 27. Juni 2025
Kradolf. Wer Willi Oertig in dessen Kradolfer Atelier besucht, erlebt einen nimmermüden Schaffer. Für seine nächste Ausstellung hat der 78-Jährige seine Lebensgeschichte als Büchlein veröffentlicht.
Willi Oertig mag keine langweiligen Ausstellungen. Darum hat er sich für seine Schau in der Frauenfelder Stadtgalerie Baliere schon etwas überlegt. Vielleicht gibt es wieder ein Buffet im Keller. Vielleicht wieder einen Flohmarkt. Auf jeden Fall aber ein limitiertes Büchlein über sein Leben. Zusätzlich zur «normalen» Willi-Oertig-Show.
«Man muss einfach etwas machen. Man muss drauf!», ruft er energisch. Und meint damit: Nicht nur neue Werke malen, sondern diese auch verkaufen. Auf die Leute zugehen. Greifbar sein, unterhaltend sein.
Ehrlich und realistisch
Willi Oertig, der «Maler der untergehenden Moderne», der «Maler des Thurgauer Blues», ein «nimmermüder Indianer», ist im Februar 78 geworden. Mit den Leuten reden, das hat ihm noch nie Probleme bereitet. Schon als junger Mann konnte Oertig von seiner Kunst leben und das tut er heute noch. Seine ehrlichen, realistischen, an Edward Hopper erinnernden Alltagsszenen haben ihn zu einem der bekanntesten Künstler der Ostschweiz gemacht.
Vor sechs Jahren hat er mit dem Rauchen aufgehört. «Ich bin einfach umgekippt, danach hat es der Arzt verboten», erzählt der Fan knorriger Brissagos. Auch Alkohol trinkt er nicht mehr. Also fast nicht. Er hat abgenommen, Diät ist angesagt.
Auf der Staffelei vor dem Fenster steht ein neues Bild. Die Ecke einer Fabrikhalle ist zu sehen. Die Vorlage hat seine Frau auf dem Sulzerareal in Winterthur fotografiert. Ob das Werk noch rechtzeitig für die Ausstellung fertig wird? «Na klar», sagt er ohne zu zögern. Er ist zwar nicht mehr so produktiv wie früher, dennoch sitzt er jeden Morgen im Atelier und legt los. «Nachdem ich ausgeschlafen habe», betont er verschmitzt.
Sein Atelier im dicht bewachsenen Garten des Hauses in Kradolf hat er selbst gebaut. Der Raum alleine ist einen Besuch wert, vollgestopft mit Trouvaillen. Viel ist von ihm selbst, dazu Gefundenes, sogar Geklautes, wie er verrät. Zu jedem Gegenstand gibt es eine Geschichte. Wenn die Leute seine Bilder nicht an Ausstellungen kaufen oder in Galerien, dann hier. Im Gästebuch findet man Einträge von bekannten Politikerinnen, Geschäftsmännern, Kunstmenschen – aber auch das Team vom Werkhof, welches einmal im Jahr auf Bier und Wein eingeladen wird, oder den Gruss einer jungen Frau, die den Künstler für ihre Abschlussarbeit interviewte. Willi Oertig geniesst den Kontakt mit Menschen und erzählt mit der für ihn typischen unstoppbaren Redelust, während die Doors und Johnny Cash laufen.
Nonkonformist und Beatnik
Willi Oertigs «Malerleben» – so war die letzte Ausstellung von ihm 2022 in der Baliere betitelt – begann an seinem 17. Geburtstag. Seine Mutter schenkte ihm einen Ölmalkasten mit Anleitungsbuch. Dem jungen Mann war schon früh klar, dass man es im Leben nur zu etwas bringt, wenn man sich nicht beirren lässt und keine halben Sachen macht – und dass er aus dem bürgerlichen Leben ausbrechen, ein Nonkonformist und Beatnik sein wollte. So zog er das Malen trotz seiner Farbenblindheit durch. Von seinem mageren Gehalt als Drucker und Zeitungsausträger sparte er sich 12 000 Franken, um ein Rustico im Tessin zu kaufen, das neue Zuhause für seine damalige Partnerin Barbara und ihn. Wenn er nicht im Tessin malte, dann in Zürich, wo der noch unbekannte Maler ab 1967 in einem 12 Quadratmeter grossen Zimmer am Limmatquai hauste. An seiner ersten Ausstellung kauften die Leute alle 13 dort hingeschleppten Ölbilder. Da war er baff. Auch wenn der damalige Kulturchef des «Tagis» ihm eine Karriere als Maler nicht zutraute – der Grundstein war gesetzt. 1972 kündigte Will Oertig seinen Brotjob und lebte fortan von der Kunst.
Besonders schön am neuen Büchlein sind die vielen Fotos, welche die Rückschau erlebbar machen. «Das war eine wunderbare Zeit», kommentiert der Maler eine Aufnahme aus seinem Zürcher Zimmer. «Das beste Leben.» Oder ein Bild aus seinem Haus im Zürcher Oberland, auf dem er langhaarig mit Stirnband zu sehen ist, im Hintergrund ein Poster der Stones. «Vor dem grossen Kachelofen habe ich immer bis in die Nacht gemalt. Den vermisse ich ein bisschen, auch wenn es oft kalt war!» 1989 zog er mit Gattin Edith und Sohn Beda in den Thurgau, erst nach Kümmertshausen, dann nach Kradolf.
280 Bilder vom Thurgau
Auf sein Lebenswerk, auf über 1000 Bilder, davon 280 Bilder allein vom Thurgau, kann er zufrieden zurückblicken. Die handschriftlich geführte Liste aller Werke hängt in seinem Atelier an der Wand, beispielhaft für das, was seinen Charme ausmacht, präzise mit heiterer Einfachheit. Vor zwei Jahren wurde er am Neujahrsapéro der Gemeinde Kradolf-Schönenberg geehrt. Die Gemeinde und auch die Gemeinde Sulgen besitzen Bilder von ihm. Ständerat Jakob Stark wird ihn zusammen mit Hans Jörg Höhener, Präsident der Kunstkommission Kanton Thurgau, an der Vernissage in Frauenfeld vorstellen – das sind Zeichen der Wertschätzung, die ihn freuen. Wenn man ihn zu seiner Kunst befragt, kann er ganz technisch Formeln zeigen, nach denen er seine Farben mischt. Oder er kommentiert lapidar: «Mir wurde halt das Talent gegeben, gut zu malen.» Pinsel kann er nicht wegschmeissen und benutzt sie, bis kein Haar mehr dran ist, und jeder Brief, den er verschickt, wird durchs kreativ gestaltete Couvert zum Sammlerstück.
Man möchte allen raten, die Ausstellung zu besuchen, weil es ja seine letzte sein könnte. Andererseits: Das wurde doch schon vor Jahren gesagt. Der «alte Mann und die Tankstelle» – er will auf jeden Fall weiter malen, bis es nicht mehr geht. Denn seine Kunst ist schön anzuschauen, hat für ihn aber einen ganz persönlichen Zweck. So lautet eines seiner treffenden Bonmots: «Malen ist nicht dazu da, die Welt zu retten, sondern dein Leben zu retten.» Mit diesen Worten endet das Büchlein.
Willi Oertig in der Baliere Frauenfeld: Vernissage am 4. September, 19 Uhr
Stefan Böker