Freitag, 20. Juli 2018

Sulgen. Die bestandene Abschlussprüfung markiert den Übergang vom Lehrling zum Ausgelernten. In der Druckbranche müssen Lernende jedoch eine weitere «Prüfung» bestehen, bevor sie bei ihren Berufskollegen als gleichwertig gelten. 

Der Chauffeur, der bei der medienwerkstatt ag am Mittwochvormittag eine Lieferung abholen wollte, konnte kaum glauben, was sich da vor seinen Augen ereignete. Während einige Mitarbeiter tatenlos zusahen, stürzten sich fünf Männer auf einen sechsten, der an der Druckmaschine nichts ahnend seiner Arbeit nachging. Sie zwangen den jungen Mann, der sich heftig wehrte, zu Boden und fesselten ihn mit Klebeband. Im Büro der Druckvorstufe ereignete sich zeitgleich die fast gleiche Szene. Nur waren es dort Frauen, die sich – nicht weniger zimperlich als ihre männlichen Arbeitskollegen – über eine Lernende hermachten. 

Brauch mit Tradition

Die Zeremonie des Gautschens existiert seit dem 16. Jahrhundert. Durch sie werden Lehrlinge der Druckbranche von ihren Lehrlingssünden reingewaschen und in den Stand der Berufsleute aufgenommen. In diesem Jahr waren es bei der medienwerkstatt ag Polygrafin Alejandra Macias Madrid und Drucktechnologe Bill Eberhard, die ihre vierjährigen Lehren erfolgreich abgeschlossen hatten und den alten Brauch im wahrsten Sinne des Wortes hautnah erleben durften. Nach der ersten heftigen Gegenwehr ergaben sie sich ihrem Schicksal und liessen sich in einen Handwagen zum Brunnen beim Seniorenzentrum karren, nicht ohne zwischendurch mit Wasser bespritzt und mit Puder bestäubt zu werden. Bevor die beiden jungen Berufsleute ein Bad im Brunnen erhielten, führte Gautschmeister André Borges die Freisprechungszeremonie durch. 

Hannelore Bruderer

Schnell gerannt

Alejandra Macias Madrid, Polygrafin EFZ, Berg: «Ich habe geahnt, dass das Gautschen heute stattfinden wird. Der aufregenste Moment war, als meine Lehrmeisterin und drei weitere Mitarbeiterinnen kamen, um mich zu fesseln. Da bin ich losgerannt, so dass sie mich erst einfangen mussten.» (hab)

Stramm gefesselt

Bill Eberhard, Drucktechnologe EFZ, Zihlschlacht: «Ich wurde abgelenkt – und schon packten mich fünf meiner Arbeitskollegen für das Gautschen. Sie fesselten mich mit Klebeband, und zwar richtig fest, so dass es schmerzte. Dagegen war das Gautschen, trotz des kalten Wassers, weniger schlimm.» (hab)