Freitag, 5. Januar 2024

Schönenberg. Anlässlich des traditionellen Neujahrsapéros im «Klein Rigi» ehrte die Gemeinde Kradolf-Schönenberg am Berchtoldstag den einheimischen Kunstmaler Willi Oertig, der seit 1994 in Kradolf wohnt und arbeitet.

Es ist ein Phänomen, das sich Jahr für Jahr wiederholt: Wie von einer magnetischen Kraft angezogen, pilgern am 2. Januar auffallend viele Einwohnerinnen und Einwohner in das auf einer kleinen Anhöhe gelegene Restaurant unweit des linken Thur­ufers. Sie tun dies nicht der prächtigen Aussicht wegen, sondern um gemeinsam auf das neue Jahr anzustossen. Die Formulierung «pilgern» ist insofern angebracht, als das Verhalten dieser Buhwiler, Kradolfer, Neukircher und Schönenberger im entfernten Sinn tatsächlich an eine Wallfahrt erinnert. Der kommunale Neujahrsapéro folgt zwar keinem religiösen Ritus, dem Seelenheil kann er gleichwohl förderlich sein. Hat man jemanden längere Zeit nicht mehr gesehen oder gar vermisst, dann ist die Chance gross, Versäumtes an diesem Tag und an diesem Ort nachholen zu können. Rund 250 Personen nutzen diese Chance auch heuer.

Zwei Persönlichkeiten

Im Fokus stehen diesmal zwei Männer, die in aller Bescheidenheit von sich behaupten dürfen, schweizweit zu den bekanntesten Einwohnern der Gemeinde zu gehören: Willi Oertig, der Kunstmaler aus Kradolf, und Jakob Stark, der Ständerat aus Buhwil. Der Politiker übernimmt die Aufgabe, die schillernde Persönlichkeit des Künstlers mit zehn Fragen herauszuschälen. Allein die launigen, mit Ironie gewürzten Antworten sind den Besuch der Veranstaltung wert. Oertig, der «Schamane, der die Nacht malt» («Südkurier», 16. November 2012) und «nimmermüde Indianer» («Thurgauer Zeitung», 16. Februar 2017), sitzt der Schalk im Nacken. Oertig, der «perfekte Momente der Leere» («St. Galler Tagblatt», 12. September 2013) auf die Leinwand projiziert und «das Thema Verkehr wie kein anderer malt» («Neuer Anzeiger», 3. September 2021), trägt das Herz auf der Zunge. Böse kann dem 76-Jährigen deswegen niemand sein. Selbst dann nicht, wenn er auf die Frage, was ihm der Thurgau bedeute, wie aus der Pistole geschossen antwortet: «Gar nichts! Ich bin in Zürich aufgewachsen.» Den Grund, weshalb er sich trotzdem in Mostindien niedergelassen hat, kenne er nicht. Punkt – aus – Schluss. Jakob Stark merkt sofort: Nachfragen erübrigt sich.Seine Sympathie für die Indianer begründet Oertig («Wenn ich etwas bin, dann ein Indianer») mit deren Kämpfernatur. Die Indianer hätten sich für etwas gewehrt, sagt Oertig und lässt durchblicken, dass ihm eine solche Haltung imponiert. 

Kämpfer und Maler

«Ich bin ein Kämpfer und Malen ist irgendwie auch ein Kampf.» Dass er nicht nur schlagfertig antworten kann, sondern sich auch auf dem philosophischen Parkett elegant zu bewegen weiss, stellt Oertig unter Beweis, als er die Bedeutung des Himmels in seinen Werken erläutert. «Der Himmel ist für mich Freiheit – ausatmen und weg!», sagt jener Mann, der sich mit 25 Jahren vom bürgerlichen Leben verabschiedet und sich für eine Künstlerlaufbahn entschieden hat. Wobei: Als Künstler betrachtet sich Oertig – wenn überhaupt – erst in zweiter Linie. «Ich bin Maler», betont er und gibt zu verstehen, dass ihn diese Selbsteinschätzung mit Stolz und Zufriedenheit erfüllt. Die Schaffenskraft des Autodidakten Oertig in angemessene Worte zu fassen, ist schwierig. Es ist zielführender und vor allem eindrücklicher, Zahlen sprechen zu lassen: Oertig hat über 1100 Bilder gemalt und – was keine Selbstverständlichkeit ist – die meisten auch verkauft. 375-mal hat ihm der Thurgau das Motiv geliefert, 60-mal Kradolf-Schönenberg. Indem sich Oertig darauf spezialisiert hat, Szenen aus dem Öffentlichen Verkehr mit Farbe und Pinsel festzuhalten, hat er sich ein Alleinstellungsmerkmal zugelegt. Die meisten Tankstellen und Telefonkabinen, die Oertig einst als Sujet gewählt hat, existieren nicht mehr – ausser auf Bildern des Kradolfer Kunstmalers. So gesehen sind Oertigs Werke auch historische Zeugnisse mit nicht zu unterschätzender hypnotischer Wirkung. Jakob Stark stellt angesichts von Oertigs Schaffen denn auch treffend fest: «Kunst darf auch gefallen.»

Grenzen überwinden

Gemeindepräsident Heinz Keller würdigt den Geehrten als «eigenwillige und ausdauernde Persönlichkeit», die anderen Menschen als Vorbild dienen könne. Oertig habe mit seiner künstlerischen Tätigkeit den Namen der Gemeinde Kradolf-Schönenberg weit über die Grenzen des Kantons hinaus bekannt gemacht. In seiner Neujahrsansprache gibt Keller seiner Freude über das Auferstehen des Vereinslebens Ausdruck. Er betont die Wichtigkeit des Vertrauens zwischen Behörde und Bevölkerung. In den Köpfen der Menschen existierten bisweilen Grenzen, räumt Keller ein. Diese Grenzen könnten aber überwunden werden. Folgerichtig ruft der Gemeindepräsident dazu auf, mit Zuversicht und Gottvertrauen voranzuschreiten.

Georg Stelzner