Freitag, 28. September 2018

Sulgen. Die Organisation Weg ohne Angst hilft Frauen, sich gegen Gewalt von Männern zu behaupten. Letzte Woche fand in einer Tiefgarage ein realitätsnahes Training statt.

Eine Frau geht durch den Korridor zur Tiefgarage. Sie trägt eine Einkaufstasche. Plötzlich steht ein Mann vor ihr. Er grüsst sie freundlich, sie grüsst zurück. Als er auf gleicher Höhe mit ihr ist, packt er sie und versucht sie in einen Technikraum zu zerren … Die Szene ist gestellt, sie könnte sich so aber jederzeit im realen Leben abspielen. 

Im Schutzanzug

Es sind sechs Teilnehmerinnen von Selbstverteidigungskursen der Organisation Weg ohne Angst (WoA), die in der Tiefgarage eines Mehrfamilienhauses an der Bühlstrasse in Sulgen unter den ­Augen von vier Instruktorinnen ein Vertiefungstrainig absolvieren. Die Hausbewohner sind vorgängig über das Training informiert worden. Das ist auch ­nötig, denn beim Training geht es hart zur Sache. Da werden verbal lauthals Grenzen gesetzt und echte Schläge ausgeteilt. Einstecken müssen diese die beiden «Angreifer» Emmanuel und Lukas, die zum WoA-Team gehören und ihren Part als Trainer im Schutzanzug übernehmen. Um sich den Frauen zu nähern, lassen sie sich immer wieder neue Tricks einfallen. Mal bitten sie um eine Auskunft, mal haben sie eine Panne am Fahrrad, mal wischen sie unauffällig den Boden – dann schlagen sie unverhofft zu. Um die Männer abzuwehren, wenden die Frauen die Techniken an, die sie in den Selbstverteidigungskursen gelernt haben. Mit einem noch netten «Lassen Sie mich bitte durch», über ein bestimmtes «Fassen Sie mich nicht an» bis zum deutlichen «Ich habe Nein gesagt!» stellen die Frauen ihren Standpunkt klar. Lassen sich ihre Angreifer nicht einschüchtern und halten sie fest, schlagen sie zu und zwar richtig. Auch das lernen sie in den Kursen. Die Männer sind für dieses Reality-Training gut geschützt. Sie tragen gegen Fusstritte und Faustschläge dicke Polster am Oberkörper und um den Genitalbereich sowie Vollschutzhelme, die sie auch vor den Griffen in die Augen schützen. 

«Die Männer in unserem Team sind Gold wert. Sie stecken nicht einfach nur Schläge ein, sondern sind speziell ausgebildet, denn ihre Aufgabe erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl», sagt Barbara Holzer. Sie arbeitet seit über zwanzig Jahren im Bereich frauen- und mädchenspezifischer Gewaltprävention und leitet die WoA. Anders als in anderen Selbstverteidigungskursen werden bei den WoA-Kursen Schläge nicht nur angedeutet. Zwar trainieren die Frauen die verschiedenen Techniken wie bei anderen Angeboten zu Beginn ebenfalls durch Andeuten oder an Kissen, im Verlauf des Kurses kommen dann die Männer dazu und die Frauen lernen auch durch echtes Zuschlagen, ihre Schlaghemmungen abzubauen. 

Selbstvertrauen gewinnen

Die körperlichen Abwehrtechniken sind aber nur ein Teil der Kursinhalte. Im Kurs erhalten die Teilnehmerinnen erst eine Einführung in die Problematik der Gewalt und der sexuellen Gewalt an Frauen und Mädchen. In Rollenspielen lernen sie, wie sie Angriffe verbal abwehren können und wie sie Personen, die sie belästigen, Grenzen setzen. Trainiert wird ebenso, wie Gefahren erkannt werden können, wie Körpersprache und Körperhaltung von Männern zu deuten sind, die bei den Frauen ein ungutes Gefühl auslösen. «Ziel unserer Kurse ist, dass die Frauen Selbstvertrauen gewinnen und sich ihrer Stärken bewusst werden. Allein das richtige Auftreten und Verhalten trägt viel zur eigenen Sicherheit bei, so dass es gar nicht zu Tätlichkeiten kommt», sagt Barbara Holzer. Ein Fall, dass eine der Teilmehmerinnen ihrer Kurse in eine Situation geraten ist, bei der sie körperliche Abwehrtechniken anwenden musste, ist der WoA-Leiterin denn auch nicht bekannt. «Wichtig ist aber, dass wir unseren Teilnehmerinnen die Gewissheit mitgeben, dass sie sich effizient wehren können, falls sie angegriffen werden.» 

Eine der Teilnehmerinnen kommt nach dem Parcours durch das Untergeschoss des Mehrfamilienhauses schwer atmend aus der Tiefgarage. Das realitätsnahe Training ist nicht nur physisch anstrengend, sondern auch mental fordernd. «Die plötzliche, körperliche Nähe eines Fremden, der einem mit voller Kraft anfasst, macht Angst, auch wenn man weiss, dass es nur eine Übung ist», fasst sie ihre soeben gemachte Erfahrung zusammen. Diese Angst hat bei ihr aber nicht dazu geführt, sich hilflos in die Opferrolle zu begeben, denn sie hat gelernt, sich zur Wehr zu setzen. Die Instruktorinnen ermuntern die Teilnehmerinnen, nach dem Training über ihre Empfindungen zu sprechen. «Uns ist wichtig, dass alle, die an unseren Trainings teilnehmen, mit einem guten Gefühl nach Hause gehen», betont Barbara Holzer. 

Hannelore Bruderer

Angebote

«Weg ohne Angst» bietet Frauen und Mädchen Schnupper-, Grund- und Fortbildungskurse zur Selbstverteidigung an. Die Kurse werden ab acht Teilnehmerinnen durchgeführt. Kursort ist in der Regel im Dojo in Weinfelden, bei genügend Anmeldungen kann ein Kurs auch an einem anderen Ort durchgeführt werden.Informationen und Anmeldungen unter www.wegohneangst.ch. (hab)