Freitag, 20. Oktober 2023

Erlen. Pascal Bertschi aus Erlen leidet an einer Stoffwechselerkrankung – dem Leigh-Syndrom. Seine Mutter Astrid erzählt, welche Herausforderungen die Beeinträchtigung ihres Sohnes für die Familie bedeuten. 

Astrid und Thomas Bertschi wohnen mit ihren Kindern Pascal und Natascha nahe der Hauptstrasse, die mitten durch Erlen führt. Tagtäglich passieren Tausende Fahrzeuge das Grundstück der Familie. Wenn darunter eines einer Blaulichtorganisation ist – am besten ein Polizeiauto – schlägt Pascals Herz höher. «Immer wenn er eine Sirene hört, rennt er sofort zum Fenster und sieht hinaus», sagt Astrid Bertschi und fügt hinzu: «Pascal ist ein riesiger Fan der Polizei. Er hat eine Uniform und sieht am liebsten Fernsehsendungen, die sich um die Polizei drehen.» Vor Kurzem erfüllte sich für den 16-Jährigen ein grosser Traum. Die Stiftung Kinderhilfe Sternschnuppe ermöglichte es Pascal, einen Blick hinter die Kulissen der Thurgauer Kantonspolizei zu werfen. Eine Patrouille holte Pascal in Erlen ab und fuhr mit ihm zur Kommandozentrale nach Frauenfeld, wo er unter anderem einen Hundeführer traf oder Einblick in eine Gefängniszelle erhielt. «Ich bin der Polizei und der Sternschnuppe sehr dankbar, dass sie Menschen solche Augenblicke schenken, die sie für einmal alle Sorgen und Behinderungen vergessen lassen», sagt Astrid Bertschi. 

Nur fünfzehn Fälle
Sorgen hat Familie Bertschi im Alltag zur Genüge. Im Alter von vierzehn Monaten wurde bei Pascal das Leigh-Syndrom diagnostiziert, eine Stoffwechsel­erkrankung, unter der in der Schweiz lediglich fünfzehn Personen leiden und körperliche sowie kognitive Beeinträchtigungen zur Folge haben. «Gemerkt, dass etwas nicht stimmt, haben wir damals, als Pascal immer wieder ohne ersichtlichen Grund gestürzt ist», erklärt Astrid Bertschi. Durch die Stoffwechsel­erkrankung und die daraus resultierende Beeinträchtigung blieb Pascal ein Besuch der Volksschule verwehrt. Er besuchte die heilpädagogische Schule in Romanshorn. Heute arbeitet er in der Bildungsstätte in Sommeri, wo er für Firmen Waren verpackt und konfektioniert. Den Weg zu seinem Arbeitsplatz meistert Pascal selber. Mithilfe eines Rollators geht er zum Bahnhof, je nach körperlicher Verfassung und Ausdauer ist er aber auch auf einen Rollstuhl angewiesen. «Es kommt nicht selten vor, dass er den Zug verpasst und ich ihn trotzdem fahren muss. Ich bin immer auf Abruf bereit», sagt Astrid Bertschi. Auch zuhause muss Pascal rund um die Uhr betreut werden, Zeit für sich selber findet sie kaum. «Wenn ich mehr als dreissig Minuten ausser Haus muss, ist mir nicht mehr wohl. Wenn ich länger unterwegs bin, beispielsweise selber einen Arzttermin habe, muss ich eine Betreuungsperson organisieren», erklärt die 53-Jährige. 

Geringe Unterstützung
Für Astrid Bertschi steht ausser Frage, dass sie sich als Mutter rund um die Uhr um ihren beeinträchtigten Sohn kümmert. Was sie aber in Rage bringt, ist die finanzielle Unterstützung, die ihr Sohn erhält. «Nach der Schulzeit wurde die Hilflosenentschädigung von 39 auf 15 Franken pro Tag gekürzt. Da Pascal aufgrund seiner Behinderung keine Lehre oder Anlehre machen kann, ist zudem die Kinderzulage gestrichen worden», sagt Astrid Bertschi. Gleichzeitig fallen aber die finanziellen Aufwendungen für das iPad, das Pascal zur Kommunikation benötigt, die Fahrdienste oder die speziellen Schuhe und Kleider hoch aus. Erst wenn Pascal 18 Jahre alt ist, wird er Gelder von der Invalidenversicherung erhalten. «Bis dahin fallen wir zwischen Stuhl und Bank», bemerkt Astrid Bertschi und fügt an: «Ich bedaure, dass alte und behinderte Menschen nicht mehr Unterstützung erfahren. Auch sie sollten in einem Sozialstaat wie der Schweiz ein angemessenes Leben führen können.» Aus einem Fond der Bildungsstätte Sommeri erhält Pascal für seine Arbeit 60 Franken pro Monat. «Für das Selbstwertgefühl von Beeinträchtigten ist es wichtig, dass ihre Arbeit belohnt wird», findet Astrid Bertschi. 

Zukunft ungewiss
Eine weitere Herausforderung für das Ehepaar ist es, neben der Betreuung von Pascal auch ihrer Tochter Natascha gerecht zu werden. «Oftmals müssen wir uns bei Aktivitäten aufteilen. Wir sind sehr stolz auf Natascha, dass sie die ganze Situation ohne zu klagen mitträgt», sagt Astrid Bertschi. Umso mehr geniesst sie es, wenn sie der 18-Jährigen, die eine Lehre als Kauffrau absolviert, einmal den Besuch eines Harry-Styles-Konzerts oder eine Städtereise nach Paris ermöglichen kann. Sollten sich Astrid und Thomas Bertschi altersbedingt einmal nicht mehr um Pascal kümmern können, will Natascha diesen Part übernehmen. «Wir haben grosses Glück, das ist nicht selbstverständlich», sagt Astrid Bertschi. Um die Zukunft will sich die Hausfrau und Mutter aber noch keine grossen Gedanken machen: «Wir nehmen jeden Tag, wie er kommt. Wie sich Pascals Behinderung entwickeln wird und wie es dann um seine Gesundheit stehen wird, wissen wir ohnehin nicht.»

Monika Wick